Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1943, Page 43
DAS SOZIALE ERWACHEN IN FINNLAND
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z. B. mit Hilfe von »Talkoos« Heu und Getreide geborgen und
Bauholz zusammengebracht. Als die Naturalwirtschaft zur Geld-
wirtschaft wurde, kam der Geist dieser Nachbarhilfe und »Tal-
kooarbeit« in neuen Formen zum Ausdruck. Es entstanden zu-
náchst Konsumvereine und Spar- und Darlehenkassen zur Be-
friedigung der Bediirfnisse der Landwirtschaft. So stellte sich der
finnische Individualismus in den Dienst der Gemeinschaft und
wurde zu einem sozial verwendbaren Faktor.
Die Struktur der finnischen Gesellschaft hat ebenfalls die Er-
haltung des sozialen Geistes gefördert. Sie beruht námlich auf
dem seit Jahrhunderten freien Bauerntum, aus dem sich erst die
finnischen Arbeiter und die gebildete Klasse entwickelt haben.
Solange die Arbeiter unter patriarchalischen Yerháltnissen auf
dem Lande lebten, spielten sie als soziales Element keine beson-
dere Rolle. Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie neben
dem Bauerntum zu einem gesellschaftlichen Faktor. Die finnische
Intellektuellenschicht besteht aus Intellektuellen der ersten und
zweiten Generation, die grösstenteils von Bauern und Arbeitern
abstammen und lebhafte Beriihrung mit ihrer urspriinglichen
Klasse haben, auch wenn sie eine leitende Stellung in der Gesell-
schaft einnehmen. Diese spáte Differenzierung der finnischen Ge-
sellschaft und die gemeinsame Herkunft aller gesellschaftlichen
Klassen haben die Voraussetzung fiir die Entwicklung einer wirk-
samen sozialen Gesinnung geschaffen.
In Anbetracht dieser historischen Voraussetzungen sollte man
an und fiir sich erwarten, dass die soziale Entwicklung in Finn-
land keine schweren Krisen aufweisen wiirde. Nichtsdestoweniger
entstand aber in Finnland gerade an der Schwelle seiner politi-
schen Freiheit eine innere Krise von betráchtlichem Ausmass.
Nachtráglich, im leidenschaftslosen Lichte der Geschichte, er-
kennen wir jedoch die natiirlichen und begreiflichen Griinde die-
ser Tatsache. Die von privatem Unternehmungsgeiste geleitete
Industrie hat weder am Ende des 19. noch am Anfang des 20.
Jahrhunderts fiir die soziale Fiirsorge der Arbeiter gesorgt. Auch
in Finnland gab es negative Folgen der Grossindustrie: die Ver-
schlechterung der Arbeiterwohnungen, Arbeitslosigkeit u. s. w.
Eine der Ursachen war der Umstand, dass die Arbeitgeber öfters
der sprachlich dem Volke entfremdeten Intellektuellenschicht an-
gehörten.
Noch gespannter wurden die sozialen Probleme, als Finnland
zur Zeit der russischen Unterdriickung der Sozialpolitik nicht