Gripla - 01.01.1993, Page 219
RUDOLF SIMEK
ENZYKLOPÁDISCHES SCHRIFTTUM ALS
QUELLE VON BERGR SOKKASONS
NIKULÁS SAGA
Jakob Benediktsson hat in seinem Artikel ‘Stjórn og Nikulás saga’1
erstmals darauf aufmerksam gemacht, daB sich das Verhaltnis zwi-
schen Bergs Nikulás saga (auch als Nikulás saga II bezeichnet) und der
altnordischen Bibelkompilation Stjórn, wie es Selma Jónsdóttir dar-
stellte2, auf Grund der von ihr vorgelegten Textvergleiche nicht be-
weisen laBt. Selma Jónsdóttir hatte aus dem Vergleich von sieben
Textstellen verwandten Inhalts in Stjórn und Nikulás saga gefolgert,
daB der Kompilator der Stjórn Material aus Bergs Nikulás saga (und
vielleicht auch aus einer álteren Fassung dieser Saga) bezogen habe
und die Stjórn daher jiinger als die zwischen ca. 1325-1345 verfaBte
Saga sei. Diese Annahme stutzte sie insbesonders auf Textstellen tiber
die Herkunft des Namens Asien, die Lander Kleinasiens und eine Be-
schreibung des Basilisken, die alle letztlich aus dem lateinischen enzy-
klopadischen Schrifttum stammen.
Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch, daB diese Passagen
zwar inhaltlich weitgehend íibereinstimmen, beztiglich der Wortwahl
jedoch bedeutende Unterschiede aufweisen: Jakob Benediktsson hat
an einigen der Textstellen exemplarisch zeigen können, daB Stjórn
und Nikulás saga miteinander weniger gemeinsam haben als jeder der
beiden Texte seinerseits mit den möglichen oder wahrscheinlichen la-
teinischen Quellen, etwa Isidors Etymologien oder Vinzenz von Beau-
vais Speculum historiale. Er kommt daher zu dem SchluB, daB die in-
haltlichen Gemeinsamkeiten zwischen Stjórn und Nikulás saga nicht
auf eine Abhangigkeit der beiden Texte voneinander, sondern auf un-
abhangige Úbersetzungen des gleichen lateinischen Textes zuriickzu-
1 ln Gripla VI, Reykjavík 1984 (Stofnun Árna Magnússonar á fslandi, Rit 28), pp. 7-
11.
2
Selma Jónsdóttir, Illumination in a manuscript of Stjórn, Reykjavík 1971, pp. 65-71.