Studia Islandica - 01.06.1940, Side 85
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Sagas enthalten einen bedeutenden Teil wahrhaftigen Stoff, ergo
miissen sie aus Tradition entstanden sein, — und weil sie aus
Tradition entstanden sind, jedenfalls die alteren, und die Ver-
fasser nur das haben niederschreiben wollen, was sie fiir wahr
und richtig hielten, enthalten die Sagas einen bedeutenden Teil
historischen Stoff. Von dem gewonnenen Ergebnis der Hrafn-
katla-Untersuchung lásst sich jedoch einiges lernen, was fiir die
Untersuchungen der anderen Sagas nutzlich sein kann:
1) Es zeigt sich, dass man jedenfalls in Bezug auf diese eine
Saga allzu unkritisch und leichtglaubig war. Ist es dann nicht
wahrscheinlich, dass man auch iiber andere Sagas von falschen
Ausgangspunkten Unrichtiges gefolgert hat, und dass die allge-
meinen Anschauungen, die man sich auf einer solchen Grund-
lage verschaffte, mit Schwáchen behaftet sind?
2) Man hat gemeint, dass Hrafnkatla ein sehr deutliches und
wahres Bild von der miindlichen islándischen Erzáhlkunst gebe,
und sie zeigt sehr gut, wie eine mundliche Saga am besten hátte
sein können. Kann dann nicht verschiedenes andere in den Is-
lándersagas, was man als miindliche Erzáhlkunst betrachtet hat,
auf dieselbe Weise entstanden sein, als schriftliche Erzáhlkunst
auf der höchsten Entwickelungsstufe?
3) Man ist der Ansicht gewesen, dass man zwischen den
klassischen Sagas und den Liigen-Sagas auf sehr einfache Weise
hátte unterscheiden können: dass die erfundenen Sagas immer
schlechte Romane waren, ubertrieben, schablonenmássig in der
Schilderung von Menschen und Ereignissen, unursprunglich, aus
Motiven zusammengesetzt, die von iiberallher zusammengebettelt
waren, aus Fornaldarsagas, iibersetzten Romanen u.s.w. Mit an-
deren Worten, dass die Verfasser der klassischen Sagas nicht
hátten Romane schreiben w o 11 e n noch die Islánder diese mit
Ausnahme von schlechten Romanen hátten schreiben k ö n n e n.
Die Hrafnkatla ist in jeder Hinsicht eine klassische Islándersaga,
wenn es iiberhaupt eine solche gibt, und damit ist die Bewáhrtheit
von diesem Kriterium als iiberaus unsicher erwiesen. Der Ver-
fasser einer klassischen Saga konnte sowohl die Lust als die
Fáhigkeit zum Fabulieren in hohem Grad besitzen, es war keine
Notwendigkeit, dass er bei der Erdichtung einer Saga in Platt-
heit oder Plagiarismus verfallen musste. Wir diirfen bei den Un-
zuverlássigkeiten in den Sagas nicht nur mit einer abgeblassten
und entstellten Tradition rechnen, sondern auch mit dem schöpfe-
rischan Willen und Genius der Verfasser. Man ist geneigt gewesen,
den Einsatz der vermutlichen múndlichen Erzáhler auf Kosten
der grossen Schriftsteller gröblich zu úbertreiben.