Milli mála - 01.06.2016, Blaðsíða 267
WOLF WUCHERPFENNIG
Milli mála 8/2016 267
Haschisch zurückführen. Das sollte uns nicht verwundern, denn
alle diese Ausrufe sind in ihrer künstlerischen Form für uns
Sterbliche ein göttliches Opium, wie er zusammenfassend sagt. Sie
alle – so die zweitletzte Strophe – ertönen in einem Kampf, in dem
wir uns verteidigen, aber wir sind nicht unschuldig, wir sind ver-
irrte Jäger. Das Entscheidende sagt uns aber die letzte Strophe: Alle
diese verzweifelten und berauschenden Kampfrufe, die nichts ande-
res sind als ein „ardent sanglot qui roule d’âge en âge”, zeugen eben
damit von unserer Würde, „le meilleur témoignage / Que nous
puissions donner de notre dignité“. Sofern die Kunst das
Ekelerregende und Furchteinflößende in Schönheit verwandelt,
zeugt sie von der Würde des Menschen.
Doch die Kunst ist in diesem Prozess nicht unschuldig, das de-
monstriert das erste Gedicht Au Lecteur. Sie macht, dass wir unseren
Höllenweg genießen. Die Blumen sind zwar schön, aber weiterhin
böse. Sie schützen uns vor dem schlimmsten Leiden, vor dem, das
einen ergreift, wenn man das Elend der Welt durchschaut hat: vor
der Langeweile, vor dem Ennui, und das ist mehr als das taedium
vitae, von dem die Alten sprachen, es ist, wie wir gleich sehen wer-
den, die Langeweile angesichts der standardisierten Welt. Die
Kunst wirkt rettend, ist aber ebenso heuchlerisch wie Dichter und
Leser: „– Hypocrite lecteur, – mon semblable, mon frère“. Darum
erlaubt die Kunst auch Grausamkeit, wenn der Erzähler im
Prosagedicht Le mauvais Vitrier die Waren eines armen Glashändlers
zerstört, weil die Gläser farblos sind: „Vous n’avez pas même les
vitres qui fassent voir la vie en beau!“19 Nicht alleine waren die
Gläser farblos, der Händler hatte nicht den leisesten Anschein jener
edlen Haltung, die Baudelaire bei den Armen schätzt, und seine
Rufe waren durchdringend und disharmonisch.
Ich bin aber noch nicht fertig mit Les Phares. Denn die Klage
endet vor dem Herrn, dort wo der brennende Seufzer „vient mourir
au bord de votre éternité“. Das ist der unfassbare fremde Gott, jene
Geistigkeit, die nicht mehr sichtbar ist, der Herr der Ewigkeit,
nicht der Demiurg, der Herr der Geschichte. Wenn wir die
Wendung „vient de mourir” wörtlich nehmen, so ist das auch eine
19 Œuvres complètes de Baudelaire, S. 238
Ihr habt nicht einmal die Scheiben, die die Welt schön aussehen lassen!