Milli mála - 01.06.2016, Blaðsíða 276
KUNST UND VANDALISMUS IM ZEICHEN DER MODERNE
276 Milli mála 8/2016
anatomische Präparate menschlicher Körper als Kunst erscheinen.37
Der Körper, nicht mehr Ausdruck des Geistes, sondern bloßer
Gegenstand, wird mit sadomasochistischer Verachtung behandelt.
Er verzehrt sich nicht mehr in der Arbeit an geistiger Vollkommenheit
und Dauer, er wird vielmehr verbraucht, indem er als ein zu perfek-
tionierender und zu konservierender Gegenstand bearbeitet wird.
Beide Richtungen kommen zum gleichen Ergebnis. Im Fall des
Illusionismus löst sich der Signifikant im allgegenwärtigen Signifikat
auf, im Fall der Materialpräsentation löst sich das Signifikat in der
Materialität des Signifikanten auf. Vom Geistigen bleibt der über-
raschende, vielleicht provozierende Einfall, vom handwerklichen
Schaffen in dem einen Extremfall das Bedienen eines Computer-
programms, im anderen das Vorzeigen von Fundstücken. In beiden
Fällen ist dem transzendierenden Symbol der Boden entzogen.
Zusammen mit dem Subjekt verschwindet auch der subjektive, aber
repräsentative Blickwinkel. Beide Richtungen haben also das ge-
meinsam, dass sie den Unterschied zwischen Signifikat und
Signifikant aufheben, weil es keine Urbilder mehr gibt, die in
Abbildern wiedererkennbar wären. Hier gibt es nicht mehr den
Aufschwung aus der leidvollen Wirklichkeit in die schöne Form, der
in den genannten Formen der Verfremdung und der Selbst-
thematisierung unmöglicher Mimesis noch vorhanden ist, hier geht
der Weg hinunter zu Reklame oder zur Faktizität des Todes.
Der Illusionismus ist auf einem wohl nicht mehr übersteigbaren
Gipfel angelangt. Nachdem es heute möglich geworden ist, jeden
beliebigen Videotext mit dem Bild und der Stimme jedes beliebigen
Menschen hören und sehen zu lassen – die entsprechende Software
heißt VoCo (oder Voco) und stammt von Adobe – ist die gesamte
menschliche Wirklichkeit, soweit sie digital vermittelt ist – und das
wird sie in zunehmendem Maß – nur noch ein Simulacrum, um den
alten Begriff von Jean Baudrillard zu gebrauchen, ein Bild, das kei-
37 Die Körper stammen offensichtlich von einem Plastinationsbetrieb in China, der seine Leichen auf
Bestellung aus den Gefängnissen bezieht, wo man anscheinend vor allem Anhänger von Falun
Gong hierfür bereit hält. Vgl. http://www.upholdjustice.org/sites/default/files/record/2012/236-
236-en_report.pdf (Zugriff am 09.01.2017). Allgemein dienen Gefangene, vor allem Dissidenten
und Falun Gong-Anhänger, als Lager lebender Organspender, praktisch als industrielles
Rohmaterial. Dazu u.a.: https://www.youtube.com/watch?v=mMytsQsCjH0 (Zugriff am
09.01.2017).