Milli mála - 01.06.2016, Blaðsíða 272
KUNST UND VANDALISMUS IM ZEICHEN DER MODERNE
272 Milli mála 8/2016
Auch wenn das Subjekt tot ist, lebt Individualität weiter, doch als
eine Funktion des Marktes, nicht als Erkenntnisleistung. Hier hel-
fen auch keine theoretischen Anstrengungen, wenn man etwa von
neuen Sinneserfahrungen redet. Ein Urinal gibt mir nicht gänzlich
neue Sinneserfahrungen, bestimmt keine besseren, wenn ich es in
einem Museum betrachte, als wenn ich auf einer Toilette hinein-
pinkele. Als Andy Warhol und andere solche Provokationen in der
Documenta-Austellung in Kassel 1968 wiederholten, wenn auch
mehr vermittelt, indem sie Bilder von Reproduktionen ausstellten,
war das schon in den Kunstmarkt integriert, so wie alles, was
ursprünglich als Protest gegen die Nützlichkeit gedacht war. Heute
regen an Warhools Bilder vor allem die Preise auf, die sie bei
Versteigerungen erzielen. Im Mai 2016 haben einige Mädchen ein
Paar Brillen auf den Boden des Museum of Modern Art gelegt und
die kunstbewussten Reaktionen der Besucher gefilmt. Provokationen
haben ein kurzes Leben, und die nichtindividuelle Authentizität, die
zunächst in Arps zufälliger Zusammenstellung zerrissener Bildteile,
in Collagen oder in André Bretons unkontrollierten Assoziationen
bestand, musste bald einer zunehmenden Bewusstseinssteuerung
weichen.29 Neben der Kunst im emphatischen Sinn macht sich nun
also auch der Kunstbetrieb als Kunst geltend, und das schließt,
sogar programmatisch, auch das Standardisierte ein. Später profi-
tiert auch die Schönheit der Waren davon und erhält ihren
Ritterschlag in der aisthesis-Theorie (vgl. unten Bagatellas: Kleiner
Exkurs). Von der gnostischen Doppelung, der Einsicht in das Elend
der Welt und der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, ist im Fall
der Avantgarde letztere in Gefahr, von der Provokation verschluckt,
im Fall der Reklame erstere, von der Harmonie erdrückt zu wer-
den.
Doch auch wenn der Protest gegen die Kunst als solche verfehlt
29 Bei Breton und dem Surrealismus ist jedoch hinzuzufügen, dass die unkontrollierten Assoziationen
– im unausgesprochenen Protest gegen Standardisierung beschworen – ebenso wie diejenigen
Freuds sogleich eine Gesetzlichkeit des Unbewussten erahnen lassen, die, dem gnostischen Schema
folgend, dann auch als Reich eines unfassbaren Geistes gedeutet werden konnte, in dem Traum
und Wirklichkeit zusammenkommen. Dieses Zusammentreffen wird dann bei Max Ernst und
anderen wichtiger als das automatische Registrieren, das auch schon bei Breton nur ein Weg
dorthin ist. Dieser Weg, sozusagen der revolutionäre Aufschwung ins Andere, nicht das fertige
Produkt, ist für Breton wichtig.