Milli mála - 01.06.2016, Blaðsíða 275
WOLF WUCHERPFENNIG
Milli mála 8/2016 275
des menschlichen Subjekts und seiner Welt antwortet, auch die
Darstellungen des Menschen als eines bloßen Objekts von Analyse
und Manipulation sind nicht überschaubar. Aber die Avantgarde
kann einen Zielpunkt dieser Entwicklung erkennbar machen. Denn
sie ersetzt nicht nur sinngebende Symbolik durch Verfremdung, sie
führt auch neue, kunstfremde Gegenstände und Materialien ein.
Von hier aus ist ein systematischer Blick auf das Verschwinden des
Menschen in der modernen Kunst möglich, sofern man den anfass-
baren Materialien die modernen Medien gegenüberstellt.
So lassen sich zwei scheinbar gegensätzliche Richtungen erken-
nen. Die eine treibt den Illusionismus, der sich mit der Renaissance
durchgesetzt hat, auf die Spitze: Photo, Film und Fernsehen, insbe-
sondere Reality tv und Docu soap, schließlich Videokunst, interakti-
ve Medien und virtueller Raum lassen vom anfassbaren Material
schließlich nur Photonen und Schallwellen übrig, während die
Darstellung immer mehr zur Realität selbst wird, in die schließlich
der Beobachter als Mithandelnder einbezogen wird. Die andere,
scheinbar entgegengesetzte Richtung präsentiert immer nachdrück-
licher kunstfremdes, zufälliges Material.35 Das fängt spätestens mit
Collage und Ready made an und führt zu „weichen“, spürbar ver-
gänglichen Materialien, welche nicht mehr, aere perennius, zu Trägern
dauernder geistiger Bedeutung taugen oder zu kurzzeitiger
Landschaftskunst. Josef Beuys gebrauchte Filz und Fett, andere
stellen ihren eigenen Körper aus.36 Nach toten Tieren in Formaldehyd
können schließlich, wie in der skandalösen Ausstellung Körperwelten,
35 Einen Zugang zum Verständnis der modernen Kunst unterm Blickpunkt der kunstfremden
Materialien bietet Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne,
München: C. H. Beck, 2001.
36 Auch bei Beuys geht es letztlich um den eigenen Körper: „Immer wieder und in zunehmender
Rückbeziehung auf die eigene Kindheit agiert er mit Hilfe biographischer Materialien die
Metamorphose des Körpers im Energiestrom fließender Wärme.“ (Wolf Wucherpfennig:
«Fremdheiten: Die erlebte Fremde, das konstruierte Fremde und die Entfremdung (H. C.
Andersen, Joseph Beuys, Gustave Flaubert», S. 190, in: Fremde (Freiburger literaturpsychologische
Gespräche 21) 2002, S. 185-197.