Milli mála - 01.06.2016, Síða 254
KUNST UND VANDALISMUS IM ZEICHEN DER MODERNE
254 Milli mála 8/2016
Das macht gnostisches Denken wieder aktuell.3 Sobald die Welt
nicht einfach da ist, wie bei den Denkern der Antike, sondern als
Schöpfung gedacht wird, taucht die Frage nach der Herkunft des
Bösen auf. Denn ein ebenso guter wie allmächtiger Gott hätte das
Böse vermieden, statt es einfach als Mangel des Guten zu akzeptie-
ren, als ein Stück Unvollkommenheit. Auf diesen Zweifel an einem
guten Gott antwortet gnostisches Denken mit einem Dualismus,
der, wie wir sehen werden, der Struktur künstlerischen Phantasierens
entspricht. Es unterscheidet einen fremden Gott, gleichwohl
Ursprung der menschlichen Seele, den reinen Geist, die reine
Harmonie einerseits, vom unvollkommenen Schöpfergott, dem von
Platon entlehnten Demiurgen andererseits. Das Christentum sucht
dem laut Hans Blumenberg (Die Legitimität der Neuzeit, Teil 2) auf
zweierlei Weise vergeblich zu begegnen. Zunächst, indem die von
Augustin begründete Tradition die gnostische Antwort durch den
Verweis auf die menschliche Erbsünde zu entwerten sucht: Der
Mensch mit seinem liberum arbitrium trägt die Schuld am Bösen. Da
er jedoch nur durch die Gnadenwahl davon befreit werden kann, ist
der eine Gott und Schöpfer insgeheim doch wieder verantwortlich.
Der zweite Versuch, die Gnosis zu überwinden, die Theodizee näm-
lich, wird mit dem Beginn der Neuzeit angestellt, wenn eine nur
mehr pragmatische Vorsehung dem Menschen die Aufgabe über-
trägt, für die Vollendung der noch unfertigen Welt selbst zu sor-
gen. Mit dem Ende des Fortschrittsglaubens scheitert aber auch
dieser Versuch. Heute ist der Mensch dabei, die Welt nicht zu voll-
enden, sondern zu zerstören.
Doch schon lange, bevor das Böse zum theologischen Problem
wird, ist die Welt für den Menschen immerhin so bedrohlich, dass
sie mythisch interpretiert werden muss. In diesem Sinn war und
bleibt sie uns fremd. Wir sehen uns ihr gegenüber, zuerst als frem-
der Natur, dann als fremder, obgleich selbstgemachter Geschichte.
„Fremde sind wir auf der Erde alle“, heißt die erste Zeile eines
3 Ich stütze mich dankbar auf die Hinweise meines verstorbenen Freundes Uffe Hansen. Von seinem
reichen Wissen über die Gnosis hat er leider neben einem Vorwort zur dänischen Übersetzung von
Kafkas Aphorismen (Franz Kafka, Aforismer og andre efterladet skrifter, Roskilde: Roskilde Bogcafé,
1999) nur einen Artikel in einem Sammelband hinterlassen (Uffe Hansen, »At læse Kafka«, in:
Kafka i syv sind, hrsg. David Bugge, Søren R. Fauth, Ole Morsing, Kopenhagen: Anis, 2012, S.
9-48)