Milli mála - 01.06.2016, Page 255
WOLF WUCHERPFENNIG
Milli mála 8/2016 255
Gedichtes von Franz Werfel, das den Ersten Weltkrieg kommen-
tiert. Das ist gnostische Grunderfahrung, aber sie beruht auf einer
anthropologischen Konstante, auf der Unfertigkeit des Menschen
in der Welt, die er erst zu seinem Haus machen muss. Diese
Grunderfahrung, schon vor allen gnostischen Lehren, ist mit der
Kunst verbündet. Denn nicht die Technik hilft uns, uns die fremde
Welt zu unserem Haus zu machen, wohl aber nach dem Tod des
Schöpfergottes allein noch die Kunst. Manche wissen noch nichts
von seinem Tod, und man mag sich streiten, ob im Namen der
Religionen mehr Gutes oder mehr Böses geschieht. Im Namen der
Kunst wird jedenfalls niemand totgeschlagen.
Was leistet also die Kunst? Beginnen wir mit einer anderen
Frage: Warum sprechen uns die Dramen der griechischen Antike
immer noch an? fragt Marx. Wenn die Voraussetzung tatsächlich
stimmt, dass die Heutigen noch von Sophokles und seinen Brüdern
angesprochen werden, so wäre meine Antwort: weil sie uns der
Ambivalenz aussetzen und mit ihr versöhnen, die wir gegenüber
der grundsätzlichen Fremdheit und Feindlichkeit der Welt, letzten
Endes gegenüber dem Tod empfinden. Sogar die Komödie tut es;
sie zeigt ja, dass der Versuch geistiger Leitung versagt gegenüber
der Macht der toten Materie.4 Schon auf die naturgeschaffene
Fremdheit der Welt, nicht erst auf die vom Menschen verursachte,
antwortet Ambivalenz. Die mordende und nährende Natur er-
scheint in göttlichen Gestalten, wie etwa in der indischen Kali oder
in der Baalsgöttin Astarte. Wenn Platon im Staat verlangt, die
Jugend solle nur von guten Göttern hören, nicht von solchen, die
gut und böse gleichzeitig sein können, und damit faktisch die eu-
ripideische Tragödie mit ihrem ambivalenzauflösenden Deus ex
Machina rechtfertigt,5 so trennt er Mythos (und damit Literatur)
4 Das wird aber als lebensbejahende Erleichterung empfunden. Hierzu Wolf Wucherpfennig, Das
Schreckliche und die Schönheit. Studien zu Ambivalenz und Identität in der europäischen Literatur,
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013. Hier das Kapitel: »Das Lachen des Todes«.
5 Nietzsche hat bekanntlich Euripides dafür kritisiert, dass er die Mysterienlehre der alten Tragödie
zerstörte, nämlich „die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der
Individuation als des Urgrundes des Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann
der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.“ Friedrich
Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus«, S. 62, in: Friedrich
Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, Bd. 1, München: Hanser, 1954, S. 7-134.
Unter dem genannten Titel vereinigt Nietzsche den Versuch einer Selbstkritik und die Abhandlung
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, aus welcher die zitierte Stelle stammt.