Milli mála - 01.06.2016, Síða 257
WOLF WUCHERPFENNIG
Milli mála 8/2016 257
tionaler Größe oder im Warenbesitz liegt.7
Es ist ihr gnostischer Zug, wenn man so will, ihre eingeborene
Melancholie, ihr Leiden an der Welt zusammen mit der Sehnsucht
nach dem ganz Anderen, das man als fremden Gott, als Geist, als
dauernde Harmonie oder wie auch immer bezeichnen will, was das
Eigentümliche der emphatischen Kunst ausmacht. Und ihre
Fähigkeit, beides in Ambivalenz miteinander zu versöhnen und so
allerdings jeglichen gnostischen Dualismus aufzuheben.8 Ihre
grundlegende Ambivalenz zwischen dem Leiden an der Welt und
der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, in dem man gleichwohl zu
Hause wäre, nimmt je nach wechselnder Erfahrung und entspre-
chendem Bewusstsein auch wechselnde Formen an: Leiden an un-
terschiedlichen Formen des Bedrohlichen, an unterschiedlichen
Formen innerer und äußerer Gewalt, der Einsamkeit und des
Verlusts. Aber immer klingt das grundsätzliche Leiden an der Welt
hindurch; und gerade diese Verallgemeinerung, zusammen mit der
Öffnung für das ganz Andere, nicht irgendein Ankommen, sondern
die Bewegung aus dem Leiden in die Ordnung der schönen Form,
macht die versöhnende Kraft, die tröstende Unsagbarkeit der em-
phatischen Kunst aus. Und insofern behütet sie auch vor weltver-
achtender Askese, zu der gnostisches Denken allerdings führen
7 Damit wird nicht die alte Unterscheidung von niederer und hoher Kunst weitergeführt. Chansons
von Georges Brassens und Songs von Leonhard Cohen können durchaus die Kriterien emphatisc-
her Kunst erfüllen. Eben so wenig sollen unschuldige Kinderreime, flotte Rhythmen und muntre
Lieder abgewertet werden. Das Lied, das meine Großmutter mich lehrte, und von dem ich durch
Viktor Manns Erinnerungen erfuhr, dass es der erfolgreichste Schlager des Jahres 1900 war, beg-
innt so:
Mein Herz, das ist ein Bienenhaus,
die Mädchen sind darin die Bienen.
Sie fliegen ein, sie fliegen aus,
grad’ wie in einem Bienenhaus.
In meines Herzens Klause.
Holldria holldrio, holldria holldrio,
holldria ho, holldria ho,
holldria ho, holldria ho.
Solch ein Liedchen kann Erinnerungen an eine ganze Kindheit wachrufen. Aber es ist ebenso
wenig emphatische Kunst, wie das Gebäck es ist, von dem Proust in seinem berühmten Roman
schreibt, der sich mit der modernen Erinnerungszerstörung auseinandersetzt. Gegen solche
wohlschmeckende Unterhaltung ist auch nichts einzuwenden. Problematisch hingegen sind die
standardisierten Erzeugnisse der Kulturindustrie, die den Menschen zu einem unmündigen
Wesen erziehen. Sie gehorchen der Ästhetik der Reklame.
8 Das ist das Thema meines oben genannten Buches Das Schreckliche und die Schönheit. Studien zu
Ambivalenz und Identität in der europäischen Literatur. Hier allerdings noch ganz ohne Hinweis auf
gnostisches Denken.