Milli mála - 01.06.2016, Síða 259
WOLF WUCHERPFENNIG
Milli mála 8/2016 259
Gesetze erforscht, sei es in der Malerei der Blick des einzelnen, der
die Perspektive auslotet, die sich dann mathematisch berechnen
lässt, sei es in der Musik die Sängerin, die auf die Rampe tritt und
ihre Arie singt, und zwar sowohl als fühlendes Individuum wie
auch als Fürstin, die dem rhetorisch-sozialen Dekorum unterworfen
ist; sei es der Dichter, der über sich selbst schreibt, doch so, dass er
erfüllt, was das rhetorisch-soziale Dekorum gebietet.9 Den stärks-
ten Kontrast zwischen dem Aufbruch der Individuen und der alten
Ordnung bietet wahrscheinlich die Divina Commedia. Hier zeigt
sich auch deutlich, was die moderne Kunst kann: Der Gegenstand,
die Leiden des Lebens, wird zu ästhetischem Genuss durch die
Form. Ich zögere, hier von Sublimierung zu sprechen. Es ist eine
Verwandlung in etwas Anderes. Die Leiden des Lebens sind hier die
Leiden der Hölle, denn die alte Ordnung besteht noch (darum ist
das Himmelreich auch noch erforderlich), und das Leben ist noch
nicht die Hölle der Entfremdung, zu der es später wird.
Hier muss ich, da es ja um den Vandalismus der Realität geht,
kurz beim Dreißigjährigen Krieg verweilen, dem ersten der großen
modernen europäischen Kriege. Hier kämpften Christen gegen
Christen, und daran verstarb die alte Ordnung schließlich, wenn-
gleich nach langem Siechtum. Umso nachdrücklicher beschwört
man sie zunächst. Vielleicht kann man die Sonette des Andreas
Gryphius als einen würdigen Abschluss der Periode sehen. Er lebte
in Schlesien, einer der am schlimmsten verwüsteten Gegenden des
Deutschen Reiches. Nicht der Einzelne als solcher, sondern der ein-
same, in Krieg und Krankheit verlassene Mensch beschwört in den
Sonetten die doppelte Bedeutung alles Irdischen, die hiesige und die
jenseitige, die in Gottes Büchern abgelesen werden kann. Die
Darstellung der doppelten Bedeutung mit genau kalkulierten rheto-
rischen Mitteln macht, dass der verstehende Leser im Detail wie im
Ganzen eine kosmische Harmonie im dichterischen Text abgespie-
gelt sieht: die reine Harmonie aus dem irdischen Elend heraus.
Damit sind wir in der Zeit vor dem 18. Jahrhundert angekom-
men und können die Auseinandersetzung der Kunst mit dem
9 Decorum (bienséance, das Wohlanständige, decency, det sømmelige) beginnt einerseits schon in
der weltlichen Mittelalterliteratur eine Rolle zu spielen – so weit ich weiß, in Gottfried von
Straßburgs Tristan, wo es „vuoge“ heißt – und es bleibt andererseits lange gültig, auf jeden Fall
bis zu Stendhals Le Rouge et le Noir, wo es mit einem Skandal zerstört wird.