Milli mála - 01.06.2016, Page 264
KUNST UND VANDALISMUS IM ZEICHEN DER MODERNE
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Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen
natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein
anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte
Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer
der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbür-
gerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung er-
tränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und
an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die
eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.[...] Alle festen eingerosteten
Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und
Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie ver-
knöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige
wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre gegensei-
tigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. (MEW 4, 465)
Die Romantiker erleben, wie das Zerstörungswerk siegt. Der
Glaube an die verborgene Sympathiewelt des Geistes geht in den
Untergrund und taucht um 1900 als weitverbreiteter Okkultismus
und Spiritismus wieder auf.16 In der Zwischenzeit wird die moder-
ne Welt des Geldes und der Technik, wiederum ambivalent, mit
einer Mischung aus Faszination und Abscheu beschrieben, in
Deutschland, Österreich und Skandinavien eher aus der biedermei-
erlichen Idylle heraus, die in Spannung zur lockend-beängstigenden
Welt des Draußen steht, in Frankreich und England aus der
Spannung zwischen Provinz und großstädtischem Zentrum heraus,
allerdings in ganz unterschiedlicher Weise. In Frankreich ist Paris
der Magnet für die jungen Intellektuellen der Provinz, in England
kritisiert man einerseits die zurückgebliebene Provinz, setzt sich
andererseits kritisch mit der Industriellen Revolution auseinander.
Eine Übergangsgestalt, deren Werk alle Herausforderungen der
Moderne aufnimmt, ist Charles Baudelaire. Bei ihm müssen wir
verweilen, denn wir können sein Werk zum Ausgangspunkt neh-
men, um die Auseinandersetzung der Kunst mit der nachromanti-
16 Vgl. den Katalog zur Ausstellung Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915
in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Ostfildern: edition tertium 1995. Zur Bedeutung von
gnostischem Denken, Spiritismus und Okkultismus in der Zeit im 1900 vgl. auch die differen-
zierte Darstellung von Gísli Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik. Esoterische und okkult-
istische Modernität bei R. M. Rilke (Epistemata 673), Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009