Milli mála - 01.06.2016, Blaðsíða 269
WOLF WUCHERPFENNIG
Milli mála 8/2016 269
liegt. Damit ist nicht nur gesagt, was die Kunst kann, damit ist auch
gesagt, wofür sie kritisiert werden kann und soll.
Damit ist aber auch gesagt, dass die Kunst keinen Fortschritt
fördert und bestimmt keine Einnahmen; sie bringt die hegeliani-
sche Dialektik des Fortschritts zum Stehen und verwandelt sie im
Schatten des Todes in Ambivalenz. Die emphatische Kunst der
Moderne hat damit einen historischen Abschluss erreicht, nicht das
umfassende Bewusstsein des objektiven Geistes, welches die deut-
sche romantische Philosophie als Rettungplanke gebrauchen zu
können meinte, sondern das Bewusstsein von der unausweichlichen
Ambivalenz unseres endlichen Daseins. Wenn die Geschichte
grundsätzlich immer das gleiche Elend ist, so ist eine entsprechen-
de geschichtsphilosophische Reflexion sehr viel weniger aufwendig
als eine Fortschrittstheorie. Aber sie enthält eine ebenso umfassende
Sicht auf die Modernität, jedoch nicht im Zeichen des absoluten
Bewusstseins, sondern in dem des Todes und der Ware.
Das lässt sich in Baudelaires Gebrauch der Allegorie erkennen.
Während in der barocken Allegorie nur die geistige Bedeutung
gilt, nicht der Signifikant, so wertet die Romantik die lebendige
Wirklichkeit auf, während der Signifikat in der subjektiven Sicht
des Künstlers begründet wird, die jedoch objektiv sein sollte.
Deswegen sollte der Betrachter z. B. im Voraus wissen, welche
Bedeutung Caspar David Friedrich seinen Landschaftsdetails zuge-
dacht hat. Baudelaire hingegen führt eine strukturelle Neuerung
ein: Er unterscheidet nicht mehr zwischen Signifikant und Signifikat.
Wenn seine Allegorien, wie La Mort, le Souvenir, le Mal, la Douleur
in den Alltag einbrechen, so erscheinen sie nicht in einem anders-
artigen Bild, hier werden Tod und Böses selbst lebendig. In einer
wunderbaren Wendung wie „[…] Vois se pencher les défuntes
Années, / Sur les balcons du ciel, en robes surannées“ (Recueillement)23
leben die abgestorbenen Jahre und, wie man gleich darauf erfährt,
kündigen sie tröstend das Leichenkleid der Nacht an.24 Aber zu-
23 Œuvres complètes de Baudelaire, S. 174 „Sieh die verstorbenen Jahre sich über die Balkone des
Himmels beugen, in veralteten Gewändern“. Auch in Goethes Symbol fallen Signifikat und
Signifikant zusammen. Aber nicht, weil alles Lebendige auf den Tod verweist, sondern weil der
einzelne Fall in vielfältiger Spiegelung auf das Ganze des Lebens verweist, von dem er ein Teil ist.
24 Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass Baudelaires Allegorien eine lange Vergangenheit
mit sich tragen, die bis in die antiken Mythen reicht.