Milli mála - 01.06.2016, Blaðsíða 271
WOLF WUCHERPFENNIG
Milli mála 8/2016 271
gegen die Kunst als solche und gegen das seit der Renaissance herr-
schende Subjektverständnis.27 Die Kunst soll im praktischen Leben
aufgehen, indem sie es verändert. Damit antwortet auf den
Vandalismus der Realität ein künstlerischer Vandalismus, der doch
bald von Markt abgesegnet und vom Kunstdiskurs mit Labels ver-
sehen wird. Die individuelle Produktion, die man ansonsten auch
dort noch wertschätzt, wo man die Vorstellung vom genialen
Produzieren entmystifiziert, z B. bei Valéry, wird abgelehnt zuguns-
ten der Ausstellung signierter Serienprodukte. Diese erscheint als
das Paradox einer Art nichtindividueller unmittelbarer Authentizität
– eine bildliche Mimesis wäre schon zu vermittelt –, bei der auch
der Zufall seine schöpferische Rolle spielt. Die Provokation, auch
wenn sie nichts anderes ausstellt als Standardisierung, richtet sich
gegen die langweilige, zweckrationale Ordnung der Gesellschaft,
gegen Nützlichkeit und Warenästhetik. Sie soll ein erneuerndes
Chaos schaffen, das frei von Sinn ist – das gilt z. B. auch für die
Lautgedichte – und sich mit seinem provozierenden Nihilismus zu
Beginn auch gegen die Speerspitze der Avantgarde selbst richtet,
wenn der Dadaismus sich der Reklame bedient, aber so, dass er sie
durch völlige Übertreibung ironisiert. Diese Kunst sucht Reflexion
zu provozieren, indem sie dem Betrachter das Alltägliche in ver-
fremdeter Gestalt gegenüberstellt. Provokation aber hat eine kurze
Halbwertzeit, und mit ihr schwindet auch die Reflexion der
Zuschauer:
Nachdem einmal der signierte Flaschentrockner als museumswürdiger
Gegenstand akzeptiert ist, fällt die Provokation ins Leere; sie verkehrte
sich ins Gegenteil. Wenn heute ein Künstler ein Ofenrohr signiert und
ausstellt, denunziert er damit keineswegs mehr den Kunstmarkt, sondern
fügt sich ihm ein; er destruiert nicht die Vorstellung vom individuellen
Schöpfertum, sondern er bestätigt sie.28
27 Unter Avantgarde verstehe ich, Peter Bürger folgend, die Kunstrichtungen, welche die
Aufhebung von Kunst in Lebenspraxis betreiben, beginnend mit einem Teil der russischen
Avantgarde nach der Oktoberrevolution, Dadaismus und frühem Surrealismus, und mit
Ausläufern in Futurismus und Expressionismus. Meistens werden allerdings noch weitere
Strömungen der Kunst und Literatur dazu gerechnet. Nach 1945 gibt es unterschiedliche
Neuansätze, die aber den ursprünglichen Protest gegen die Warenästhetik nicht weiterführen.
Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde (edition suhrkamp 727), Frankfurt a. M., 1974, S. 44f.
28 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 71.