Milli mála - 01.06.2016, Side 273
WOLF WUCHERPFENNIG
Milli mála 8/2016 273
war, so ergreift die Avantgardekunst dennoch etwas von histori-
scher Bedeutung. Sie läutet eine Epoche neben der letzten ein, die
in meiner Darstellung im Zeichen Baudelaires steht, über die man
den Titel eines berühmten Buches von Günter Anders setzen kann:
Die Antiquiertheit des Menschen (1956). Es ist eine Epoche, in welcher
der reale Vandalismus gesiegt hat und die Menschen keine Rolle
mehr spielen. Die Avantgardebewegungen entstanden nach dem
ersten umfassenden Krieg der Materialschlachten, also nach dem
weltweiten Vernichtungswerk der Zerstörungsmaschinen. Der
Dadaismus hat zunächst einmal die Funktion, die jeder Nonsens
hat: Er hält dem schrecklichen Unsinn der Welt den Spiegel vor, so
wie Perseus der Medusa. Das simple Vorzeigen standardisierter
Warendinge reicht aber weiter, es weist darauf hin, dass Maschinen
und Waren über Menschen herrschen, ja dass die Menschen selbst
zu Waren geworden sind, zu dem, was man heute Humankapital
nennt, worunter man eine Ansammlung politisch wünschbarer und
verkäuflicher Fertigkeiten versteht. Tatsächlich verschwindet der
Mensch zusammen mit seiner Lebenswelt nicht nur im Krieg, son-
dern auch in der Technik und in den sogenannten Realabstraktionen,
das heißt in den abstrakten ökonomischen Strukturen, zum Beispiel
den Diagrammen von Börsenkursen, die realistischer sind als an-
schaubare Bilder. Für eine Kunst und Literatur, die das berücksich-
tigt, ist keine soziale Mimesis und keine sinndeutende Symbolik
mehr möglich (im Gegensatz zum Aufblühen der lebensprakti-
schen Piktogramme).30 Neben die emphatische Kunst mit ihrer der
Gnosis analogen Ästhetik, zum Teil mit ihr verbunden, tritt so eine
Kunst, die man posthumanistisch nennen könnte, mit einer Ästhetik
der Verfremdung, die von der Avantgarde als die entscheidende
künstlerische Technik herausgestellt wird und die das Ende der
Mimesis anzeigt.31 Die Fremdheit der Welt wird dabei eher noch
30 Vgl. Wolf Wucherpfennig, «Herztod oder Das Ende des Symbolischen. Zu Christina Hesselholdts
Trilogien», S. 310, in: Robert Nedoma / Nina v. Zimmermann (Hg.), Einheit und Vielfalt der nor-
dischen Literatur(en). Festschrift für Sven Hakon Rossel zum 60. Geburtstag (Wiener Studien zur
Skandinavistik 8), Wien: Edition Press 2003, S. 187-197.
31 Werner Hofmanns These von der Wiederkehr mittelalterlicher Polyfokalität in neuer Form reicht
vielleicht nicht aus, die Vielfalt der modernen Kunstformen unter einen Begriff zu bringen, sie
zeigt aber deutlich das Ende des Mimetischen an. Vgl. Werner Hofmann, Die Moderne im
Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte, München: C. H. Beck, 1998.