Gripla - 20.12.2007, Blaðsíða 164
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weniger ‚barocke’ Texte verfassen, so dass ‚barock’ in Übereinstimmung mit
diesem Konzept keine feste, mit einer Epoche, einem Autor oder einer Gat-
tung verbundene Qualität, sondern ein rhetorisch definierter Begriff ist.
Kapitel 10 („Hverfulleikakvæði og heimsendalýsingar“, S. 201–222) ist
das erste von mehreren Kapiteln, die sich mit einzelnen Gattungen beschäf-
tigen. Hier plädiert die Verf. aufgrund sehr genauer und überzeugender Text-
analysen, dass Hallgríms zahlreiche und zeittypische Gedichte über das Ver-
gänglichkeits- und Vanitas-Motiv – vor allem natürlich durch Allt eins og
blómstrið eina bekannt (vgl. S. 206) – ein eigenes Genre bilden, das sie als
hverfulleikakvæði bezeichnet (vgl. S. 203, S. 213 u.ö.), also thematisch-rheto-
risch und nicht biographisch zu definieren sind. Kapitel 11 („Ádeilukvæði“, S.
223-240) behandelt darauf die Gattung der Satire als Gegensatz zur Panegyrik
(vgl. S. 234); sie wird an zahlreichen Gedichten, etwa Aldarháttur, exempli-
fiziert (vgl. S. 234) und unterscheidet sich von den Vergänglichkeitsgedichten
bei ähnlicher Thematik vor allem dadurch, dass sie die Gegenwart beein-
flussen will. In diesen Gattungskapiteln greift die Verf. jeweils auf Entspre-
chungen in der zeitgenössischen deutschen und nordischen Literatur zurück,
was ihrer Darstellung einerseits eine literarurhistorische Tiefenschärfe und
Repräsentativität verleiht und andererseits immer wieder nachweist, in welch
engem internationalen Kontext Hallgríms Werke stehen. Die zahlreichen Ver-
bindungen, die zur deuschen und nordischen Literatur (und zur entspre-
chenden Forschung) hergestellt werden, und die dadurch ermöglichten detail-
lierten Lektüren der Gedichte Hallgríms gehören zweifellos zu den großen
Stärken dieser Arbeit.
Einem naturgemäß sehr umfangreichen Thema geht Kapitel 12 („Tæki-
færiskvæði“, S. 241–270) mit der Gelegenheitsdichtung nach. Das Beispiel
der stark rhetorisch geprägten Hochzeitsgedichte macht auf ein Spezifikum
von anonymer Literatur der Vormoderne aufmerksam (vgl. S. 247), denn die
Zuschreibungen an den bekannten Dichter sind vermutlich häufig erst nach-
träglich, wohl in der Regel im 18. Jahrhundert, vorgenommen worden: Schon
früh reagierte man also auf den Umstand, dass gewisse Texte in der Über-
lieferung autorlos waren, und versuchte, diese ‚herrenlose’, damit unkontrol-
lierbare Literatur durch die Anbindung an den kanonisierten Dichter in
geregelte Bahnen zu lenken. Es sei ausdrücklich vermerkt, dass diese Über-
legungen zur Textualität barocker Dichtung von Margrét Eggertsdóttirs
Material inspiriert sind (vgl. S. 247), sich jedoch bei ihr in dieser Form nicht
finden. — Eine Analyse des Neujahrspsalms Árið hýra nú hið nýja bringt u.a.
sehr schöne Beobachtungen zur Metrik, wobei sich hier wiederum die Frage
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