Gripla - 20.12.2007, Blaðsíða 172
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eine immense Zeittiefe in der europäischen Kultur haben. Die entscheidende
Frage, die die Verf. zwar implizit beantwortet, aber nicht explizit zur Debatte
stellt, lautet dann jedoch, ob die klassische, historische Rhetorik tatsächlich
eine so große heuristische Kraft hat, wie (zum Beispiel auch in der vorlie-
genden Untersuchung) behauptet wird. Eine Antwort auf diese Grundsatzfrage
hat diese Besprechung hoffentlich geben können. Es wäre jedoch angemessen
gewesen, wenn die Verf. solche allgemeinen literaturwissenschaftlichen Fra-
gen deutlicher thematisiert hätte.
Ein letzter Aspekt sei unter dem Stichwort Text- und Autorbegriff ange-
sprochen. Im Grund ist die Anlage der Untersuchung — eine Monographie
über das Gesamtwerk eines Dichters — durchaus konventionell. Obwohl es wie
mehrmals erwähnt nicht um eine Autorenbiographie geht, werden Hallgríms
Texte möglichst vollständig einbezogen (vgl. u.a. Kapitel 9). Daraus ergeben
sich jedoch einige grundsätzlichere Fragen: Welche Rolle spielt die
Intertextualität für den Begriff eines Textes im 17. Jahrhundert? Wie steht es
mit der handschriftlichen Transmission der Texte? Gibt es bereits so etwas wie
eine Identität, eine feste Einheit des barocken Textes, wie er sich dann im 18.
und 19. Jahrhundert herausbilden wird, oder kann für Hallgríms Gedichte
noch gar nicht von einem vom Autor selber verantworteten Text gesprochen
werden? Allgemein vermisse ich in der Untersuchung ein wenig die Be-
rücksichtigung von Resultaten der sogenannten ‚Material Philology’, die sich
anhand der konkreten Überlieferungssituation mit den Veränderungen von
Texten beschäftigt. Aus der Lektüre des Buches ergibt sich der Eindruck, die
Texte von Hallgrímur seien relativ fest im Sinn von stabil, unveränderlich ge-
wesen. Spielt in seinem Fall der ‚unfeste Text’ also keine Rolle? Die Verf.
erwähnt in Zusammenhang mit anonymen Gedichten, dass vermutlich spätere
Zuschreibungen stattgefunden haben, doch hätte dies wie oben erwähnt dur-
chaus stärker ausgebaut werden können.
Wir erfahren in Margrét Eggertsdóttirs Buch sehr viel über die Tradi-
tionen, die auf Hallgrímur Pétursson zugeführt haben; es wäre nun interessant,
auch etwas über seine Nachwirkung und die Rezeption zu erfahren, also
darüber, wie er als Barockdichter zu dem geworden ist, was er heute ist. 8 Die
Fragen lauten also: Wie entsteht ein Barockdichter? Wie verläuft die
Geschichte seiner Kanonisierung? Sind es in der Geschichte der isländischen
Literatur(geschichtsschreibung) des 19. und 20. Jahrhunderts nicht gerade die
barock-atypischen Merkmale gewesen, die man an Hallgrímur herausge-
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8 Vgl. hierzu auch Magnús Jónsson (1947, II, 278–288).