Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1938, Page 96
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LE NORD
Rechtsfragen rechnen zu können, die in der Praxis vorkommen.
Es sollte daher den Gerichten iiberlassen werden, auf die Eigen-
art des einzelnen Falls angemessene Riicksicht zu nehmen und
solchen Umstánden Beachtung zu schenken, die bei Erlassung
des Gesetzes nicht vorauszusehen waren.
Man darf indessen in dieser Richtung nicht zu weit gehen.
Hier im Norden ist man nicht in demselben Umfange wie in Eng-
land bereit, die Rechtsentwickelung von der Priifung der Gerichte
von Fall zu Fall und einer auf diesem Wege entwickelten Praxis
bestimmen zu lassen. Man bemiiht sich, einen goldenen Mittelweg
zwischen den Extremen zu finden. Ist man von dem Vorhanden-
sein eines wirklichen Bedarfs iiberzeugt, so versucht man, die
Rechtssicherheit durch ausdriickliche Gesetzvorschriften zu ge-
wáhrleisten. Andererseits will man es aber vermeiden, der Ent-
wickelung unbefugterweise vorzugreifen, indem man eine zur
endgiiltigen Lösung in der geschriebenen Form des Gesetzes noch
nicht reife Auffassung in Gesetzesparagraphen einschliesst. Die
Rechtsbildung muss sich auf diesen Gebieten in den freieren For-
men bewegen, die die rechtswissenschaftliche Diskussion und die
Praxis der Gerichte darbieten.
Die Bahnbrecher der gemeinsamen Gesetzgebungsarbeit hatten
ihr Augenmerk zunáchst darauf gerichtet, dass der Handelsaus-
tausch und der Wirtschaftsverkehr iiberhaupt in hohem Grade
erleichtert wiirden, wenn die nordischen Lánder iibereinstimmende
Gesetze erhielten. Wie wir sahen, bezog sich die Arbeit deshalb
auch anfangs auf das Handelsrecht. Dass die Urheber dieses nor-
dischen Zusammenwirkens sich nicht in ihren Hoffnungen ge-
táuscht haben, geht am besten aus dem regen Interesse hervor, das
die Wirtschaftskreise der Aufrechterhaltung und Erweiterung
der Rechtseinheit gezeigt haben. Indessen hat die Erfahrung
uns gelehrt, dass diese praktischen Vorteile nicht die einzigen
und kaum die wichtigsten sind. Durch Heranziehung von
Sachkenntnis und Erfahrung aus dem ganzen Norden haben die
Fragen der Gesetzgebung eine vielseitigere Beleuchtung erhalten.
Beim Streben nach Rechtseinheit treten auch die grossen prin-
zipiellen Linien mit einer Klarheit und Schárfe hervor, die ver-
tiefend und befruchtend wirken. Ein nordisches Gesetz wird daher
auch in der Regel ein Gesetz von besonders hoher Qualitát.
Die Zusammenarbeit auf einem bestimmten Rechtsgebiet ist
ubrigens durchaus nicht damit abgeschlossen, dass ein gemeinsam
ausgearbeiteter Gesetzentwurf in allen nordischen Lándern zum