Studia Islandica - 01.06.1989, Blaðsíða 47
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Der Augenzeugenschaft des Geschichtsschreibers selbst
maB man den höchsten Wert zu, denn dadurch konnte die
Darstellung ausfuhrlicher und glaubwurdiger erscheinen als
sonst.9 Diese Anschauung zeigt sich besonders im Ausdruck
„non visa sed audita“. „Visa“ ist der Autor als Augenzeuge
gegeniiber „audita“, Berichten anderer. Denselben Unter-
schied macht auch Theodoricus, vgl. sein Vor- und Nach-
wort.10 Benutzt ein Historiograph fremde Quellen, denen er
vielleicht nicht ganz vertraut, dann fiigt er manchmal hinzu,
er selbst könne nicht fiir die Wahrheit seiner Erzáhlung bur-
gen, seine Berichterstatter seien verantwortlich dafúr.11 Hier
handelt es sich um eine in der Geschichtsschreibung gar nicht
seltene Gewohnheit, die auch fúr Theodoricus zutrifft
(vgl.„quia aliena relatione didici quod scripsi“; MHN, S.
68).12
Úber den Wert ihrer schriftlichen Quellen áuBern Ge-
schichtsschreiber sich selten, aber auch das Fehlen solcher
Erörterungen láBt Schlússe zu. Fast alle Autoren stútzen sich
auf schriftliche Darstellungen, an deren Glaubwúrdigkeit sie
- mit einigen Ausnahmen - kaum zweifeln. Einzelne Zeug-
nisse ergeben, daB man schriftliche Berichte fúr sicherer hielt
als múndliche, evtl. in der Annahme, sie gingen auf Augen-
zeugen oder Zeitgenossen zurúck. Aus alldem kann man fol-
gern, daB im Mittelalter das Geschriebene allgemein als zu-
verlássige und gute Quelle galt.13 Ein Beispiel dafúr gibt auch
Theodoricus:
Ad quod probandum testes ciebo idoneos. Hugo bonæ memoriæ canonicus
Sancti Victoris Parisiis, vir undecunque doctissimus, ita meminit gentis nostræ
in chronica sua /.../14
Die Benutzung schriftlicher Vorlagen sah man also als
selbstverstándlich an.15 Dasselbe galt aber nicht fúr die múnd-
liche Tradition. Die Geschichtsschreiber fúhlten ihre Mángel
und versuchten deshalb auf verschiedene Weise, die Verwen-
dung múndlicher Berichte zu rechtfertigen, indem sie u.a. auf
„auctoritates“, d.h. glaubwúrdige Zeugen, verwiesen.16