Studia Islandica - 01.06.1989, Page 141
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nen lebhaften Aufschwung und erhielten in ihrer erneuten
Begegnung mit der Antike eine eigentiimliche, schöpferische
StoBkraft.2 Die áuBeren Bedingungen waren vielfáltig. Han-
del und Industrie entwickelten sich zu ungeahnter Blute und
trugen zum Wachstum der Stádte bei. Dies war die Zeit der
Kreuzzúge,3 die u.a. zur Bekanntschaft mit fernen Lándern
fúhrten und einen neuen Horizont erschlossen.4 Die Macht
der Kirche als internationaler Institution wuchs; sie erwarb
groBen Reichtum, der es ihr erlaubte, eine auBergewöhnliche
Tátigkeit auf kulturellem Gebiet zu entwickeln. Die Zahl der
Klöster und Schulen vermehrte sich, und ein reger Verkehr
herrschte zwischen diesen Bildungsstátten.5
Deutliche, einander folgende Merkmale der obenerwáhn-
ten Geistesbewegung waren u.a. Gelehrsamkeit, Nationali-
tátsbewuBtsein und Aufgeschlossenheit fúr das klassische Al-
tertum. Man forschte nach seiner eigenen Herkunft und Ver-
gangenheit und schrieb die Geschichte dahingeschiedener
Generationen auf. Lateinische Geschichtsschreibung wurde
somit eine der bemerkenswertesten literarischen Gattungen
des 12. Jahrhunderts.6 Uber den Anteil der skandinavischen
Lánder sagt Paul Lehmann z.B. folgendes:
Es ist kein Zufall, sondern eine Folge, ein Symptom der Kulturerstarkung
der nordischen Lánder, daB sich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nordische
Schriftsteller an der Pflege der mittellateinischen Literatur hervorragend be-
teiligen, kein Zufall, daB neben der Dánengeschichte des Saxo Grammaticus,
der Historia und der Genealogia regum Daciae des Sven AggesOn ein nor-
wegischer Mönch das Geschichtswerk De antiquitate regum Norwegiensium
abfaBte. Denn Anteilnahme am abendlándischen Geistesleben und Ansatzzu
Nationalgefúhl vereinigten sich hier wie da dank dem begeisterungsvollen
Verstándnis fur die Schöpfungen der fernen Welt und dem Stolz auf das eige-
ne Vaterland und Volk.7
Dieselben kulturellen Strömungen gelangten auch nach Is-
land,8 wo eine besondere Gesellschaftsordnung herrschte.
Zwei Faktoren, das einheimische Kulturerbe und der von
auswárts kommende Impuls, bestimmten die islándische Ge-
schichtsschreibung im 12. Jahrhundert. Die Insel war in geo-