Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1941, Page 66
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trotzdem sind diese beiden Kunstarten, so merkwiirdig das im er-
sten Augenblick auch klingen mag, durch ihre urwiichsige, un-
gebrochene Gestaltungskraft miteinander verwandt.
Der Farben- und Kontrastreichtum, die Gewagtheit und Si-
cherheit der Strichfuhrung, das Hervorheben wesentlicher Dinge
und die kantigen Konturen vieler islandischer Bilder erwecken
Gedankenassoziationen mit der Sagaliteratur, obwohl sich diese
ganz iiberwiegend mit Menschenschicksalen befasst, und Natur-
beschreibungen nur selten vorkommen, wahrend der Haupteinsatz
der Malerei der Landschaft gilt. In den Sagas ist die Geschichte
Islands und in der Malerei die Landschaft kiinstlerisch gestaltet.
Die islándische Malerei ist, ganz ungewollt, eine Ergánzung der
Saga geworden — und sie ist ihr kongenial. Auf dem Gebiete der
bildenden Kunst hat, im modernen Kleide, der schöpferische Geist
der alten nordischen Literatur seine Auferstehung gefunden. Die
farbenpráchtigen Impressionen der halbpolaren Landschaft wir-
ken allerdings unmittelbarer auf die Sinne als die komplizierten
Ránke und Racheaktionen, die in den Sagas so háufig geschildert
werden.
Zweifellos hat die alte Literatur einen tieferen und massgeben-
deren Einfluss auf die Maler gehabt als die Ateliers im Auslande,
in denen die einzelnen Islánder ihre Studien betrieben.
Die Sagas sind Jahrhunderte hindurch Gemeingut des islán-
dischen Volkes geblieben und beleben noch heute das Geistesleben
der ganzen Nation. In den Romanen der modernen islándischen
und ubrigens auch norwegischen Schriftsteller sind die alten lite-
rarischen Traditionen nachweisbar. Schriftsteller wie Sigrid Und-
set in Norwegen, und Gunnar Gunnarsson, Kamban und Laxness
in Island, haben sie verjungt und zu neuer Blúte gebracht. Das ist
der Grund, warum die moderne islándische Romankunst mit der
norwegischen so eng verwandt ist. Als Kuriosum sei noch hinzu-
gefúgt, dass auch die islándische Malerei der norwegischen viel
náher als der dánischen steht, obwohl sich die islándischen Maler
mehr in Dánemark als in Norwegen aufgehalten haben, und in
der Reykjaviker Bildergalerie hauptsáchlich Werke dánischer Ma-
ler zu sehen sind. — Die Galerie in Reykjavik ist der einzige Ort,
wo man heute einen Oberblick úber die islándische Malerei er-
langen kann, obwohl die Museen der skandinavischen Staaten, vor
allem die dánischen, angefangen haben, Bilder einzelner islándi-
scher Maler zu erwerben.