Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1941, Page 219
OTTO JESPERSEN
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usw.) als das Ideal betrachteten, hebt Jespersen ganz niichtern
hervor, dass »Sprache menschliche Tátigkeit bedeutet, hauptsách-
lich soziale Tátigkeit, um mit anderen Individuen in Verbindung
zu treten und ihnen seine Gedanken, 'Wiinsche und Gefiihle mit-
zuteilen«; deshalb muss eine Abschleifung der Formen, die eine
leichtere Erreichung des gewiinschten Ziels, der Mitteilung, ermög-
licht, als ein Fortschritt angesehen werden. Er zitiert den deut-
schen Sprachforscher Schleicher: »Unsere Worte nehmen sich
gegeniiber gotischen Worten aus wie eine Statue, die durch langes
Rollen in einem Flussbett ihre Gliedmassen verloren hat und von
der jetzt nicht viel mehr iibrig ist als eine abgeschliffene Stein-
walze mit schwachen Andeutungen dessen, was sie einmal gewe-
sen ist.«
Hierauf fragt Jespersen: »Aber gesetzt den Fall, dass gar nicht
davon die Rede wáre, die Statue zur Bewunderung auf einem
Piedestal aufstellen zu können; gesetzt, dass das geistige und zeit-
liche Wohl der Menschheit auf dem Spiele stiinde, wenn sie sich
nicht gerade in einem Walzwerk gebrauchen liesse; was wáre dann
besser, eine unebene Statue, die bei jeder Umdrehung ein Hindernis
bildete, oder ein glatter, runder Zylinder, bei dem alles wie ge-
schmiert geht?« Man sieht, dieses zweite Grundprinzip beruht
auf dem ersten, auf der Auffassung von der nahen Beziehung
zwischen Inhalt und Form der Sprache.
Die áltere Sprachwissenschaft hatte ihre Lautregeln auf Ver-
gleichungen der Buchstaben, der geschriebenen Form der ver-
schiedenen Wörter, aufgebaut. Sie war »Augenphilologie«, wie
sie Jespersen selbst genannt hat. Fiir die Sprachforscher in Jesper-
sens Jugend dagegen hatte die lebende, gesprochene Sprache am
meisten Bedeutung, sie waren Phonetiker, und hier fand Jespersen
seinen Platz. Man durfte iiber dem Inneren das Aussere nicht
versáumen, wie das bisher der Fall gewesen war. Dazu kam
weiter, dass Jespersens Generation starkes Interesse fiir den
Sprachunterricht hatte, und hier waren sie der Úberzeugung, dass
man ohne Verwendung der Phonetik und einer dazugehörigen
Lautschrift kein gutes Ergebnis erzielen könnte. Bis etwa zur
Jahrhundertwende arbeitete Jespersen besonders in dieser Rich-
tung. Seine grosse Fonetik (1897—99) ist ein Hauptwerk im
Rahmen dessen, was man jetzt »die klassische Phonetik« nennt.
Sie bildet die Grundlage fiir die beiden deutsch geschriebenen
Bíicher Lehrbuch der Phonetik und Phonetische Grundjragen, und
spáter schrieb er ein Elementarbuch der Phonetik und eine dáni-