Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1941, Qupperneq 295
ISLANDISCHE LITERATURGESELLSCHAFT 289
»Alle gotischen Völker sind seit langem eifrig bemiiht, ihre Altertiimer
zu sammeln und zu erklaren, um die Erinnerung an die Taten der Vater
und den Wechsel der Zeiten zu bewahren, die so eng mit der Ehre der
Nation und einem wesentlichen Teile der Wissenschaft iiberhaupt ver-
bunden ist. Die Danen stehen in dieser Hinsicht auch nicht hinter anderen
Völkern zuriick, es ist aber merkwiirdig, dass man den herríichsten dieser
heiligen tíberreste iibersehen und achtlos der alles verzehrenden Zeit iiber-
lassen hat. Als den herrlichsten Uberrest der Altertiimer aller gotischen
Völker darf man wohl mit Recht die alte Sprache bezeichnen, die ehemals
iiber den ganzen Norden verbreitet war, jene Sprache, in der einst Brage
den Sohn der Natur bezauberte, die Saga den jungen Helden zu Klugheit
und edler Tat begeisterte, um es den Vatern gleichzutun, und noch in
unserem eigenen Schosse die Runensteine uns von Gorm dem Alten und
Thyra Dannebod erzáhlen. Von ihr ist schliesslich unsere jetzige dánische
Sprache ein Widerhall, einer ernsteren und vollkommeneren Mutter lieb-
liche Tochter. Diese alte Dánische Zunge, ohne die uns unsere jetzige
Sprache, unsere alte Götterlehre, unsere Altertiimer, Geschichte, Gesetze
und andere Literaturdenkmáler ein ewig verschlossenes Buch wáren, lebt
noch, wird noch von einem Teile unserer Mitbiirger, den Islándern, ge-
sprochen. Dies kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen, da i«h auf meinen
Reisen in Island in den Jahren 1813, 14 und 15 das Volk iiberall diese
Sprache in einer Reinheit und Schönheit habe sprechen hören, die in An-
betracht des Abstandes der Zeit unglaublich erscheinen; iiberall habe ich
die Menschen mit Entziicken die alten Sagas iiber das Heldenzeitalter
lesen sehen. Nichtsdestoweniger sind der Umgang mit Fremden und die
Armut des Landes Schuld daran, dass Sprache und Literatur zu verfallen
beginnen. Es muss daher als des dánischen Volkes nicht unwiirdig erschei-
nen, zur Erhaltung dieses herrlichen Erbes der Váter die Hand zu reichen,
sodass, wer unserer Vorfahren Ursprung, Taten, Denkmáler, Denkweise
und ganzes Leben ergriinden und schildern wiíl, zugleich stándig ihre
Sprache lebendig vorfinden kann.
Was wiirde nicht ein Verehrer der griechischen und römischen Literatur
dafiir geben, wenn er nur einen Augenblick mit einem Manne aus dem
alten Athen oder Rom sprechen könnte! — Der Zugang zu einem áhn-
lichen Genuss steht fiir den, der unsere eigene Vorzeit und unsere eigene
alte Literatur studiert, noch immer offen, und sollten wir wohl ein geringes
Opfer scheuen, um diesen Zugang der Nachwelt iiberliefern zu können?
In der Erhaltung dieser Sprache und Literatur liegt auch das einzige
Mittel, in Island Aufklárung zu verbreiten, die Verbesserung der Land-
wirtschaft und andere niitzliche Unternehmen zu fördern, weil es die
einzige Sprache ist, die das Volk versteht, und weil sie zu tief gefestigt
und die Bevölkerung des Landes zu sehr verstreut ist, als dass man in weni-
ger als tausend Jahren hoffen könnte, eine andere Sprache einzufiihren, wo-
durch man iiberdies die jetzige Sprache in kiirzerer Zeit leicht verderben
könnte, so dass die Einwohner in der Zwischenzeit alle Vorteile der Lite-
ratur entbehren miissten. Auch aus diesem Grunde erscheint es nicht unpas-
send, dass Dánen dazu beitragen, Aufklárung und Gíiickseligkeit unter ihren
Mitbiirgern zu verbreiten, da ein jeder so bedeutende Teil des Vaterlandes
in den Augen der Welt notwendigerweise das Ganze entweder verschönern
oder verunzieren muss.