Bibliotheca Arnamagnæana - 01.06.1967, Side 425
FRUHLINGSWOLLE
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Die Bed. »im Winter abgeschnittene Wolle« kommt zwar lt. Ro s s
auch in Nordwest-Tel., Dalane, S-Hord. und Hard. vor, aber die
Bed. »Wolle, die im Friihling abgerupft oder geschoren wird« ist doch
bedeutend weiter verbreitet: Aasen kennt aus Tel., Westnorwegen,
Trøndelag und Nordnorwegen nur die Bed. »Løsuld, Laad; den
Uld som i Fældningstiden løsner af Faarene og kan plukkes af«, Ross
fiihrt sie auch fur Lista und Rog. an, und zahlreiche Angaben in NO
erklåren das Wort in Obereinstimmung mit dem FB ebenfalls mit »vår-
ull; ull som klyppest om våren«. »Wolle, die sich im Friihling lost und
abgerupft werden kann« ist nach der Etymologie (zu idg. *reu- »auf-
reissen, graben, aufwiihlen; ausreissen; raffen«4) zweifellos die ålteste
Bedeutung des Wortes5, und sie herrschte, wie die Angaben von Aasen
und Ross zeigen, bis in die neueste Zeit, dh. solange sich bei einer pri-
mitiveren Art von Schafzucht (wie heute meist noch auf den Får oer n)
die Wolle infolge schlechter Ernåhrung der Tiere im Friihling selbst
zu losen pflegte. Obschon jetzt auch die Friihlings- oder Winterwolle
gewohnlich mit der Schere oder gar maschinell entfernt wird, ist ihre
alte Bezeichnung aber grosstenteils bis heute beibehalten worden.
Åhnlich verhålt es sich beim zugehorigen Verb norw. rua (rue, ru\
lt. Rog. 16b ruva6, gelegentlich rua av Møre o.R. 7a; Nordi. 16),
gegeniiber isl. und anord. ryja neu zum Subst. ru gebildet und gewohn-
lich als øn-Vb. flektiert. Von Hause aus und so noch lt. Aasen wurde
es nur vom Abrupfen der sich losenden Wolle gebraucht, vermochte
sich dann aber wenigstens teilweise den verånderten sachlichen Verhålt-
nissen anzupassen, indem es zur Bezeichnung des Scherens der Wolle
im Friihjahr uberging. NO (GrMs) gibt die Bed. »klippa sauene um
vinteren eller våren« fiir Dalane, Hard., S-Hord. und N-Hord. an, NO
(ungedr.) enthålt Angaben mit der Bed. »die Schafe im Friihling scheren«
auch aus Sogn o.F., Møre o.R. und Nordnorwegen, das FB eine
entsprechende Angabe aus Østf. 3. Es ist jedoch verståndlich, dass
das Verb infolge der neueren Methode in stårkerem Masse als das
Subst. zuriickgedrångt wurde: es lebt heute (abgesehen von den beiden
Streubelegen in Østf. 3 und Busk. 13) in zwei getrennten Gebieten
4. Vgl. Torp 545 f.; De Vries 455 (ryja); Jéhannesson, Et.Wb. 708; Pokorny
I 868.
5. Anord. ist nur das zugehorige Vb. ryja »aftage, afrive den løsnede Uld, naar
Fældningstiden er forhaanden« (Fritzner III 141) belegt.
6. Vgl. Thorson, NA-Ryfylke S. 78.