Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1941, Side 68
6i
LE NORD
Darum will Matisse, dass der Maler bei der Darstellung z. B. eines
Aktes »die Bedeutung dieses bestimmten Körpers kondensiert, in-
dem er seine entscheidenden Linien hervorhebt.« — Das Bildnis
vom Menschen interessiert Matisse weitaus am meisten. Ausdriick-
lich sagt er, dass ihn weder die Landschaft noch das Stilleben, son-
dern die menschliche Gestalt (la figure) am meisten fesselt: »Sie
ist es, die mir am besten ermöglicht, das fast religiöse Gefíihl, das
ich vom Leben besitze, auszudriicken.«
Dieses fast religiöse Gefiihl dem Leben gegeniiber wird bei Jón
Stefánsson, dem islándischen Maler, nicht vom Menschen, sondern
von der islándischen Landschaft ausgelöst, von der er sagt, dass
sie ihm, im Vergleich mit den Landschaften auf dem Kontinent,
wie ein nackter Körper gegeniiber bekleideten vorkommt. — In-
dem Jón Stefánsson nun die Lehre von der malerischen Konden-
sierung auf die Wiedergabe der islándischen Natur sinngemáss an-
wendet und weiter entwickelt, entsteht etwas ganz anderes und
kiinstlerisch vollkommen Neues.
Jón Stefánsson begniigt sich ebensowenig mit blossen Fláchen-
wirkungen wie mit schnellerhaschten Impressionen. Er versucht
die dámonische und wilde Nacktheit der islándischen Landschaft
mit ihren phantastischen Farbeneffekten intensiv, kontrastreich
und doch bildlich harmonisch zusammenzufassen. Formen, Farben
und Lichtwirkungen ergánzen sich zu einer kiinstlerischen Einheit,
unwesentliche Details verschwinden, so dass seine Bilder zu einer
modernen, farbenpráchtigen, fast funktionalistischen Synthese
von Island werden.
Trotz der Frische und Unmittelbarkeit dieser Bilder steckt
eine ungeheure Arbeit in ihnen. Immer wieder nimmt der Maler
dieselbe Leinwand vor, um genau das in sie hineinzulegen, was er
mit dem Vorwurf kiinstlerisch ausdriicken will. Nie ist er selbst
zufrieden; immer will er es noch besser machen — auf die Gefahr
hin es zu verderben.
Fiir diese Haltung des Kiinstlers seinem Werk gegeniiber mag
ein Erlebnis der ersten Studienzeit bestimmend gewesen sein. Als
er Zahrtmann bat, ihn als Schiiler aufzunehmen, versicherte er im
Laufe des Gespráches pflichteifrig und schiilerhaft bescheiden,
dass er sich sehr anstrengen und so gut malen wolle, wie er nur
könne. »Das kann jeder Idiot«, antwortete Zahrtmann böse, »Sie
miissen es besser machen als Sie können; sonst wird nie etwas aus
Ihnen«. — Damit war Jón Stefánsson ein Stachel in die Seele ge-
setzt, der fiir sein Kunstgewissen bestimmend wurde. Er begniigte