Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1941, Page 174
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LE NORD
Die Frage des Alters der schwedischen Ansiedlung in Estland
hat sich natiirlich seit langem die Aufmerksamkeit der Forschung
zugezogen. Die oft vorgebrachte Behauptung, dass hier bereits
in der Wikingerzeit eine schwedische Bevölkerung ansassig
gewesen sei, konnte auf archaologischem Wege nicht bestátigt
werden. Wahrscheinlich hat die erste schwedische Kolonisation
im 12. Jahrhundert stattgefunden, und sie nahm ihren Fortgang
in den folgenden Jahrhunderten. Im 12. und 13. Jahrhundert
wurde seitens des schwedischen Reiches die bereits im voran-
gegangenen Jahrhundert begonnene Kolonisation der finnischen
Kiistengegenden, die wie die estnischen an vielen Stellen
menschenleer waren, fortgesetzt und vollendet. Die Annahme
liegt nun nahe, dass gleichzeitig eine zielbewusste schwedische
Kolonisation auch der síidlichen Kiisten des Finnischen Meer-
busens erfolgte. Damit wurde die schwedische Kriegs- und Han-
delsflotte gegen Oberfálle von seiten der damals noch heidni-
schen Esten gesichert. Es ist daher kein Zufall, dass die schwe-
dische Siedlung an den uralten Handelswegen liegt. Besonders
typisch hierfiir ist, dass sie auf das nördliche Dagö und das siid-
liche ösel konzentriert ist, d. h. an den Wegen, die zum Fin-
nischen Meerbusen und zur Rigaer Bucht hinfiihren. Gleichzeitig
ist sie auf andere strategisch wichtige Punkte konzentriert. Hierin
liegt der Grund, warum die schwedischen Siedlungen Estlands
so oft unter Kriegen gelitten haben und warum sie auch wáhrend
des jetzigen Krieges wieder ein militárisches Zentrum gewesen
sind.
Die schwedische Kolonisation von Westen her fand also
ungefáhr gleichzeitig mit der deutschen von Siiden her statt. Im
nordwestlichen Estland begegneten sich die beiden Strömungen
zum ersten Male siidlich der Ostsee. Im Laufe der kommenden
Jahrhunderte sollten deutsches und schwedisches Wesen immer
wieder gerade in Estland zusammentreffen und auf den ver-
schiedensten Gebieten der Kultur des Landes das Gepráge geben.
Wáhrend aber die deutsche Einwanderung besonders in die Stádte
ununterbrochen andauerte und diesen ein vorherrschendes deut-
sches Volkselement zufiihrte, erreichte die schwedische Einwande-
rung niemals einen grösseren Umfang und beschránkte sich im
Mittelalter fast ausschliesslich auf die Kiistenstriche. Sie war zu
jener Zeit am stárksten, dauerte aber, wenn auch in bescheidenem
Umfange, wáhrend der ganzen schwedischen Zeit an bis zum
Zusammenbruch der schwedischen Herrschaft iiber das Baltikum
im Jahre 1710.